Nachhaltiger Lehmbau: Wie geht es dem Start-up ISOPTERRA heute?

Marvin Martin und Paul Tschense studierten Bauingenieurwesen und Architektur an der TH Lübeck. 2022 gründeten sie das Start-up ISOPTERRA mit der Vision Lehmbau als nachhaltige Baupraxis zu etablieren und die Branche herauszufordern. Wie geht es ihnen heute, 1 ½ Jahre nach ihrer Gründung? Im Rahmen des BMBF geförderten Projektes „Soziale Innovationen und Gründungen auf dem Hanse Innovation Campus Lübeck systematisiert fördern und stärken – SIC“ hat Katharina Kern die beiden interviewt.

Paul (links) und Marvin (rechts) stehen auf einer Klappleiter vor einer Wand die aus Lehmziegeln errichtet wurde. Foto: Paul Tschense

Drohnenaufnahme des Grundstücks nach Beginn der Bauarbeiten in Butre, Ghana. Foto: Paul Tschense

Das Team, bestehend aus allen Dorfbewohnern, die am Bau des Hauses mitgeholfen haben, sowie Marvin und Paul. Foto: Paul Tschense

Das schattenspendende Vordach des Lehmhauses lädt zum Verweilen und Spielen ein. Foto: Paul Tschense

Außenansicht des fertigen Hauses in Butre, Ghana. Foto: Paul Tschense

Wie alles begann 

Die gemeinsame Reise von Marvin Martin und Paul Tschense begann 2019 beim studentischen Architekturwettbewerb Solar Decathlon Africa in Marokko, wo sie als Teil des Teams AFRIKATATERRE unter der Leitung von Prof. Heiner Lippe ihre Leidenschaft für den Lehmbau entdeckten. “Die Idee kam und, als wir 2019 beim Solar Decathlon in Marokko, initiiert von Heiner Lippe, erstmals mit Lehmbau in Kontakt kamen. Wir entwarfen dort ein Gebäude, das auch auf andere afrikanische Länder anwendbar wäre. Da kam mir dann die Idee, dass wir das auch mal in Ghana anwenden müssten. Paul und ich haben uns da kennengelernt und uns viel ausgetauscht. Somit haben wir uns direkt nach dem Studium an die Umsetzung in Ghana gemacht”, erinnert sich Marvin Martin, während er die Anfänge ihres Projekts reflektiert. 

Die Gründung 

Marvin und Paul gegründeten das Unternehmen ISOPTERRA im November 2022 in Hamburg. Der Name des Start-ups leitet sich dabei vom lateinischen Wort Isoptera (Termite) ab. Die Wortbestandteile Iso (gleich) und ptera (geflügelt) bilden zusammen mit terra (Erde) das Wortgebilde ISOPTERRA. Der Name steht dabei für eine Bauweise die in Harmonie mit der Natur steht. 

Die Vision

Ihre Vision: Traditionelle Bautechniken mit Innovation verbinden. “Wir sehen nachhaltige Entwicklung nicht nur als machbar, sondern als dringend erforderlich an”, sagt Marvin Martin. Die Gründer würden dabei nicht auf traditionelle Entwicklungshilfe setzen, sondern agierten als Vermittler zwischen verschiedenen Gewerken. Ihre Arbeit in Ghana umfasst damit mehr als nur den Bau. Auch die Integration und den Erhalt von traditionellen Handwerkstechniken treiben sie voran. Dabei spielt der Einsatz lokaler Ressourcen eine wichtige Rolle, um die traditionelle afrikanische Baukultur in Form einer modernen und nachhaltigen Architektur fortzusetzen. 

Vom Grundstein zum fertigen Haus

Seit der Grundsteinlegung im November 2022 hat sich viel getan. Mittlerweile steht das erste Haus auf dem Grundstück nahe des Küstenortes Butre in Ghana. Martin und Tschense bauten das „Zero km. House“ ausschließlich aus Materialien, die sie vor Ort bekamen. Die Jungunternehmer nutzten die Herausforderung als Chance, einen Gebäudetyp zu entwickeln, der im feucht-heißen Klima Ghanas funktioniert, traditionelle Bauweisen mit modernem Design verbindet und eine Lösung für erschwinglichen Wohnraum darstellt. 

Auf ihrem Weg dorthin haben sie viele Hürden genommen: Paul Tschense und Marvin Martin nahmen an verschiedenen Mentoring Programmen teil, wie sie zum Beispiel von der Hamburg Kreativ Gesellschaft angeboten werden. Auch auf dem HIC Lübeck erhielten sie tatkräftige Unterstützung. So bekamen sie eine gezielte Beratung von Seiten des GründerCubes im Rahmen des Gründungskontors, einem 10-wöchigen Programm von StartUP SH, bei dem sie in Zusammenarbeit mit Expert*innen ein passgenaues Gründungskonzept erarbeiteten. Finanziert haben die beiden ihr Projekt durch verschiedene Quellen, darunter Start-up-Programme wie der AiDiA- Afrodeutscher Startup Pitch, den Marvin im September 2022 für ISOPTERRA gewinnen konnte. Eine erfolgreiche Crowdfunding Kampagne, Privatspenden und Unterstützung durch die Fördergesellschaft der Technischen Hochschule Lübeck und der Karin-Witte-Stiftung kamen dazu.

Das Erfolgsrezept 

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist ein Schlüsselelement von ISOPTERRA. “Es gibt keine festen Rollen in unserem Team”, erklärt Paul. “Jeder übernimmt Aufgaben je nach Bedarf und Verfügbarkeit. Außer die Statik, die übernehme schon ich”, pflichtet Marvin bei, “aber wir besprechen das trotzdem noch mal zusammen. Wir haben da jetzt nicht so die klassischen Stereotypen.”
Ein wichtiger Aspekt ist zudem die Einbindung des Teams und der lokalen Gemeinschaft in Entscheidungsprozesse im Rahmen der Projektumsetzung. Durch eine hierarchielose Organisation und die Wertschätzung der Mitarbeiter tragen alle zum Erfolg des Projekts bei. Dies schafft nicht nur eine positive Arbeitsatmosphäre, sondern trägt auch zur Verbesserung des Lebensstandards der lokalen Gemeinschaft bei. “Es geht auch um soziale Teilhabe. Wir versuchen sicherzustellen, dass es keine Hierarchien zwischen neu angekommenen Europäern und den Einheimischen gibt. Wir kommunizieren auf Augenhöhe und versuchen, nicht bevormundend zu sein. Alle sollen sich in dem, was sie können, geschätzt fühlen”, führt Paul aus.

Die Herausforderungen

„Im größeren Sinne, also bezogen auf unser jetziges Projekt und das größere Vorhaben, Lehmbau attraktiver zu machen, besteht die Herausforderung auch darin, dass die Leute das Konzept annehmen. Die Überzeugungsarbeit ist eine große Herausforderung, die wir bewältigen müssen. Auf das Gesamtbild bezogen”, gibt Marvin zu bedenken. Mittlerweile steht das erste Haus, die Optik ist modern und die Wände spenden kühlenden Schatten. “Die Leute müssen das sehen, anfassen und erleben, um Vertrauen zu fassen, dass unser Vorhaben funktioniert. Das Haus fühlt sich angenehm kühl an, und wir haben viele Gäste, die dadurch beeinflusst werden und inspiriert sind für ihre eigenen Bauprojekte”, führt Paul fort.

Zuspruch durch Studierende

Über Instagram erhalten Martin und Tschense großen Zuspruch von Architekturstudierenden, die mehr über nachhaltige Bauweisen lernen würden. “Wir erhalten oft Anfragen von Studierenden, die sagen, dass in ihrem Architekturstudium nicht genug Wert auf Nachhaltigkeit gelegt wird und dass sie gerne bei uns mitmachen würden”, führt Paul aus. "Es ist schade, dass in Deutschland und auch hier in Ghana Nachhaltigkeit nicht umfassend im Lehrplan steht. Wir hoffen durch unsere Arbeit zeigen zu können, dass ein großes Interesse am Thema besteht."  Ein erster Erfolg in dieser Hinsicht ist, dass die beiden eingeladen wurden, einen Gastvortrag zum Thema Lehmbau vor Studierenden der Universität Kumasi zu halten. 

Die Zukunftsvision

Im März 2024 haben die beiden erstmals an drei Wochenenden mehrtägige Workshops angeboten, bei denen Teilnehmer*innen auf der Baustelle in Butre die Grundlagen des Lehmbaus lernen konnten. Die Workshops wurden dabei nicht nur für interessierte Studierende und Einheimische angeboten. “Langfristig wird es auch Teilnehmer geben, die möglicherweise für andere Organisationen arbeiten und die Inhalte lernen möchten, und das Haus, das sie bauen möglicherweise in Lehmbau fertig zu stellen”, verrät Paul. 

Die Zukunftsvision von ISOPTERRA geht über den Lehmbau in Ghana hinaus. Die Gründer wollen Einfluss auf die Baubranche sowohl in Ghana als auch in Deutschland nehmen. Sie sehen sich als Vorreiter für nachhaltiges Bauen und möchten junge Menschen dazu inspirieren, sich aktiv für nachhaltige Bauweisen einzusetzen. “Wir möchten, dass mehr mit Lehm gebaut wird, dass kleine Unternehmen entstehen, die Lehmbausteine herstellen, und dass Lehm als Baustoff beliebter wird. Wir wollen ein Beispiel für nachhaltiges Bauen sein, nicht nur hier, sondern auch für andere Länder. Unser Ziel ist es, zu zeigen, dass nachhaltiges Bauen im großen Stil möglich ist.”

Weniger Perfektionismus - einfach anfangen 

Einen kleinen Tipp für zukünftige soziale Innovatoren haben die beiden auch noch parat. “Meiner Meinung nach sollte man einfach beginnen, ohne sich zu sehr auf Perfektion zu versteifen. Oft streben wir nach Perfektion, aber besonders wenn man alleine oder zu zweit startet, kann nicht alles perfekt sein. Es ist wichtig, zufrieden zu sein und zu erkennen, dass es manchmal besser ist, mehr Output zu haben, als alles perfekt zu machen”, rät Paul. Dazu ergänzt Marvin: „Ich würde betonen, dass es für Menschen im sozialen Bereich sehr nützlich ist, sich Beispiele von bereits umgesetzten Projekten anzusehen. Dadurch spart man viel Zeit, da man Einblicke in die Gründungsphase und andere wichtige Aspekte erhält. Zudem ist es förderlich, sich mit anderen zu vernetzen, um voranzukommen."

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NDR Beitrag